
Teil 2 : Bilder lesen lernen
Visual literacy
Bilder sind wie Bücher. Voll mit Inhalt. Formensprache. Zeichensprache. Symbolismen. Geheimnisse. Mit Bildern ist es wie mit Texten. Wir können sie lesen. Auf zwei Arten : Zum einen ist da die einfache Dekodierung der Buchstaben in Wörter, in Sätze, zum anderen das Herstellen von Zusammenhängen, das Verständnis des Textes. Hier hadern so manche, glücklicherweise handelt es sich um eine kleine Gruppe. Bei Bildern ist es schlimmer – die meisten bleiben bei der schlichten Dekodierung und das wars dann. « Baum »
Die Anglophilen nennen es literacy. Dieses eine Wort um- bzw. beschreibt die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, wie auch die Fähigkeit, damit umgehen zu können. « Virtuos mit der Sprache jonglieren » 😉 Die Sesamstrasse hat es uns (hoffentlich) vorgebetet : « Wer nicht fragt, bleibt dumm ». Diese Fähigkeit gibt es auf den unterschiedlichsten Gebieten und selbstredend auch visuell.
While everyone can easily discuss the contents of photographs, to formally examine the visual elements were used to make up one photograph isn’t that simple. Only if you’re trained to read photographs, you can learn how the photographers exploited the angles, scales, focuses, colours, tonalities and contrasts. Beyond those technical analyses, you can easily read the stories as well as different ways the photographers used to communicate with their viewers.
Raus aus der visuellen Legasthenie
Den grössten « Fehler », den Du machen kannst, ist, Bilder nicht zu lesen oder nicht lesen zu wollen. Da gehört Arbeit zu, ich weiss. Und es ist trockener Stoff für den ein oder anderen. Theorie. Aber hochspannend. Du solltest Dich da auf jeden Fall damit auseinandersetzen, wenn Du mit Deinen Bildern den mainstream verlassen willst. Es hat einen Grund, warum Bilder in Museen ausgehängt werden. Die sind in der Regel Glanzstücke in Sachen Komposition. Das sieht aber nur, wer etwas tiefer in die Materie eingestiegen ist. Derjenige, für den « composition » nicht ausschliesslich aus Offenblende und Drittelregel, vielleicht noch Goldener Schnitt besteht. Das sind – wie ich schon geschrieben habe – die absolut billigen Sachen.
Löse Dich von Deinen Emotionen
Betrachte Deine Machwerke aus der Sicht eines unbeteiligten Publikums. Unbeteiligt insofern, als es beim Entstehungsprozess nicht zugegen war und von daher zunächst einmal keine emotionale Bindung aufbauen wird und das auch nicht kann. Woher auch. « Objektivität » könnte sowas genannt werden. Wobei ich mit diesem Ausdruck eher vorsichtig bin. Reine Objektivität gibt es meiner Auffassung nach nicht. Dazu betrachtet jeder die Bilder als Summe seiner gesamten Erfahrungen, seines sozialen Hintergrundes, seiner Erziehung, seiner Ausbildung. Lass es ein klein wenig sacken und grübel darüber mal nach. Es ist so.
Aber wenn Du das schaffst, Dich von Deinen Emotionen, die bei der Entstehung des Bildes mit im Spiel waren, zu trennen … dann ist schon ein gewaltiger Schritt getan. Ich kenne das Problem. Da meinst, Du hättest den Schuss des Tages gelandet, alles toll, Stimmung war irre, der Gedankenblitz war supergrandios, die Umsetzung einfach genial. Und dann guckst Dir das Machwerk an und stellst fest, dass es im besten Falle einfach nur « gewöhnlich » ist. Hier ein Manko, da hätte die Drehung ein klein wenig mehr sein können. Von daher empfinde ich das immer als sehr hilfreich, wenn ich keinen Druck im Nacken habe. Zeit habe, die Bilder ein paar Tage einfach liegenzulassen, nicht editieren zu müssen. Dann ist nämlich die Gefühlsduselei schon soweit abgekühlt, dass mir Kompositionsfehler deutlich härter ins Auge springen. Und wenn ein Bild nicht funktioniert, dann ist es in den meisten Fällen auch für die Tonne. Aufheben lohnt nicht. Es sei denn, der Ausdruck ist so dermassen hammergeil, dass sich ein Aufheben nur aus diesem Grunde lohnt. Alles andere ? cmd+backspace.

Lass uns einmal das Bild von Bill BRANDT « Nude, Belgravia, London, 1951 » auseinanderpflücken. Auf den ersten Blick siehst Du, dass ein Weitwinkel verwendet wurde. Oder ? Das erschafft auf gewisse Art und Weise beim Betrachter das Verlangen nach « Entdeckung ». Schönes Licht. Tolle Komposition. Das übliche Geschwaller halt, welches so zu lesen ist, wenn einer ohne Ahnung das Bild kommentieren würde, Forengeschwurbel.
Vielleicht sind Anmerkungen noch gepaart mit Dingen, wie was mit welchem Apparat, welcher Optik, eventuell welchem Licht hätte « besser » gemacht werden können 🙄 . Technnisches Geseier. Aber wer macht sich schon Gedanken darüber, was der Fotograf eigentlich mit dem Bild aussagen wollte ? Was er zeigen wollte ? Was er eigentlich zeigt ? Wie viel Zeit nimmst Du Dir, um in das Bid einzutauchen ? Ich weiss, 21. Jahrhundert, keine Zeit für nichts, alles, was ich nicht auf den ersten Blick erfassen kann, ist doof. Genau. Forum. « Warte mal. Das Licht kommt hier von platt oben. Das hätte ich aber ganz ganz anders gemacht ! ». Bjuhtidish, wa ? Mindestens drei Blitze. Hintergrund extra. Ist klar. Könnte alles auch, klarer Fall. Wäre aber kakke. Zum Licht erzähle ich später im Beitrag was.

Geometrie. Die Formen helfen, die Grösse und die Tiefe des Raumes einschätzen zu können.
Guck einmal genauer hin. Ruhig ist es. Aus der Sicht des Models (dessen Blickpunkt / Gesichtsfeld hier auf eine geniale Weise eingenommen wurde. Aufgefallen ? Nicht ? Das schreit aber danach. Nun, jetzt weißt Du das.).
Geometrische Formen bestimmen das Bild. Diese Flächen der Wände, der Decke und des Fussbodens. Dann sind da Vertikale. Ganz offensichtlich. Aufgefallen sind die mit Sicherheit. Aber beschreiben ? Aha. Wissen. Übung. Nur Mut, dann wird das auch funktionieren. Und schon wieder einen kleinen Schritt weiter auf dem Weg zu einer « Betrachtung » des Bildes. Begreifen. Verstehen, was und warum etwas funktioniert, wirkt. Nicht nur Angucken. Diese Flächen sorgen dafür, dass der Betrachter sich eine Vorstellung davon machen kann, wie gross der Raum so gaaanz ungefähr wohl sein mag.
Erinnerst Dich noch an Deinen Unterricht in der Schule ? Kunst ? Perspektive ? Hier siehst Du zwei Mittel, wie das dargestellt werden kann – eine eigentlich zweidimensionale Sache, das Foto, bekommt so etwas wie eine dritte Dimension. Tiefe. Grössenverhältnisse baut sich das Gehirn ganz schnell aus dem zusammen, was da bisher abgespeichert ist. Du weisst einfach, dass eine normaleuropäische Tür etwas mehr als 2 Meter in der Höhe hat, damit sich nicht gleich jeder den Schädel einrennt.
Und noch einmal Perspektive. Auch diese Vertikalen helfen dabei, Tiefe und Höhe des Raumes einzuordnen.
Den Sessel hast Du sicherlich auch schon gefunden. Dessen Höhe kannst Du Dir auch grob zusammenreimen und daraus schliesst Du messerscharf die ungefähre Höhe der Fenster. Die Tür von eben ist dabei auch noch wieder behilflich.
Beguck Dir mal die Kästen, die ich da in orange ins Bild gemalt habe. Fällt Dir an denen etwas auf ? Ich werfe mal das Stichwort « Gewicht » in den Raum.
Links schmale, hohe (und halbhohe, ja, ich weiss. Die Tür ist halt « niedrig » im Vergleich zum Rest 😉 ) Vertikale, rechts die im Verhältnis doch recht wuchtige Fläche des Oberschenkels. Sowas nennt man unter Bildbeguckern « Balance ». Dazu schreibe ich weiter unten noch was. Das ist durchaus beachtenswertes Wissen und kein Luxus. Die Balance von Objekten wie Subjekten in einem Foto sorgt dafür, dass das Gesamtwerk « gefällig » wird. Wirkt. Andererseits kann man damit ganz gezielt auch Verwirrung stiften, wenn die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes nicht « ausbalanciert » sind. Verstörung macht sich breit, beim Betrachter. Unterbewusst. Also : Beschäftige Dich mit dem Thema. Wirf eine Suchmaschine des Vertrauens an, wie schon so häufig von mir empfohlen. Es macht nicht dümmer 😉 Und es beisst nicht.
Zurück zu Bill und seiner Nackten in London Belgravia. Perspektivisches – verfolg mal die Beinlinien. Eine hammermässige Tiefenwirkung wird damit erzielt. Zieht den Blick richtig rein, ins Bild.
Aber die visuellen Elemente sind noch ein ganze Ecke komplexer, als weiche Beine und ein schickes Licht. Sehen die Freizeitbildergucker aber regelmässig nicht, weil sie davon noch nie gehört haben und es im tiefen Innern ihres Gemüts auch nicht hören mögen. Deshalb werden denen auch nie die fundamentalen Schwächen so gruselig vieler Bilder auffallen. Busen, Grinsen, Ofenrohr, geiles Foddo. Massenware. Austauschbar – um das Wort « beliebig » zu vermeiden.
Richtung

Die Richtungen. Blickführungen.
BRANDT hat seinem Bild Richtungen mit auf den Weg gegeben. Jedes Objekt im Geviert nimmt mein Auge zu einem bestimmten Punkt mit und ich kann nahezu jeden Winkel des Raumes sehen und dessen Ruhe spüren. Unterstützt wird das noch durch den Gebrauch eine recht weit geschlossenen Blende. Stelle Dir das Bild mal mit Ofenrohr vor, Punkt wahrscheinlich auf dem Knie. Würde überhaupt nicht mehr wirken. Sehr wahrscheinlich gar nicht, weil die weiteren, erzählenden Teile einfach in die Matsche geschoben würden.
Merkst was ? Ofenrohr ist wieder einmal mehr nicht der Weisheit letzter Schluss. Und wenn die Welt noch so drauf abfahren soll, nach Forenmeinung. Gut, dass es daneben noch eine andere Welt gibt. Eine, in der Bilder gelesen werden. Von Leuten, die was davon verstehen.
Ein (wesentliches) weiteres unterstützendes Element bei « Nude, Belgravia, London, 1951 » ist die Verwendung eines Weitwinkelobjektivs. Heute will jeder Weitwinkel haben und kaum wer kann vernünftig damit umgehen. « Most people share the same misconceptions », wie der Anglophile recht trocken zu formulieren versteht. Gute Bilder mit Weitwinkel geben dem Inhalt eine Richtung.

Licht. Ich habe hier mal zur Erleichterung einfach ein Spotlight eingeschaltet.
Licht. BRANDT hat gezaubert. Erinnerst Dich, was ich weiter oben so frech aus Forensicht zum Licht geschrieben habe ? Und siehst Du jetzt, aus welchem Grunde das vollkommen perfekt gesetzt ist ? Mit den Richtungen. Subtil, aber vorhanden. BRANDT nutzt das flächige Licht von oben ebenfalls dazu, den Blick des geneigten Betrachters zu führen. Dein Gehirn hat das schon lange registriert und steuert das Auge entsprechend. Ich habe aus Gründen der Vereinfachung und des leichteren Verständnis mal auf Spot umgeschaltet 😉 (scroll ruhig noch einmal nach oben zu dem Punkt, an dem ich das Bild überhaupt eingeführt habe. Dann kneif die Augen soweit zusammen, dass Du gerade eben noch etwas erkennen kannst. Es sind die hellen und die dunklen Flächen.). Law of Greatest Contrast wird das im Fachjargon auch genannt. Das ist auch ein Mittel zu einer (bewussten) Bildgestaltung ; ich werde in einem späteren Beitrag noch einmal darauf zurückkommen. Fällt Dir noch etwas auf ? Bei der Helligkeitsverteilung findet sie sich auch wieder : Balance. Die hellen und dunklen Flächen stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander.
Visuelle Balance
Formelle / informelle Balance
Formelle Balance : Sortiere Dein Hauptobjekt in die Bildmitte, « falte » das Bild in zwei Hälften und verteile das « Gewicht » des Hauptobjekts einigermasen gleichmässig auf diese beiden Hälften.
Informelle Balance : auch « asymmetrical balance » bekommst Du, wenn mehrere kleinere Objekte auf der einen Bildseite drapiert werden und auf der anderen – richtig vermutet – ein grosses ist. Dieses ist hier im Bild von Bill BRANDT der Fall. Auf der einen Seite die kleinen Geviere der Fenster und der Sessel, dazu noch recht « düster » gehalten, auf der anderen die schiere Masse der hellen Beine. Die kleineren Elemente sind bei asymmetrischer Balance meistens auch eher weiter weg, im Hintergrund angeordnet.
Informelle Balance ist deutlich dynamischer, als der formelle Gegenpart. Beide Arten haben allerdings eine ruhige, wenn nicht sogar beruhigende Wirkung.
« Spannungsgeladene » Bilder sind in der Regel eher nicht ausbalanciert. Kann man auch machen, kann sogar richtig toll wirken. Immer je nachdem, was Du mit dem Bild für eine Aussage treffen willst. Spannungsgeladene Machwerke sind zudem schneller zusammengeschustert, während es für die andere Art deutlich mehr an Zeit braucht, damit alles so passt, wie man sich das so vorgestellt hat, ursprünglich.
Zusammengefasst
Das waren jetzt lediglich zwei Bereiche aus dem zauberhaft grossen Topf der Bildkomposition : Flächen und Richtung. Aber wichtige, sie werden Dir immer und immer wieder über den Weg laufen. Versprochen. Du wirst sie finden. Weil Du sie siehst. Wenn Du lernst, wie Bilder gelesen werden (können), wird sich Dein Sehen verändern. Damit geht meistens einher, dass Dein Sinn für kompositorische Feinheiten geschärft wird und daraus resultieren ganz schlicht hinterher die besseren Bilder.
Aber mach Dir keine Hoffnung, dass das von Jetzt auf Gleich geht. Das kannst Du vergessen. Wie bei allen anderen Dingen in Sachen Fotografie gibt es auch hier keine Abkürzung auf dem Weg zur Meisterschaft. Eines aber ist sicher : Du wirst mit zu den besseren, den guten Fotografen gehören. Nicht einfach nur ein weiterer Knipser sein. Und das ist schön.
« Ich bin nicht an Regeln oder Konventionen interessiert. Fotografie ist kein Sport. »
– Bill BRANDT
Bekannt waren sie ihm, die Regeln und Konventionen. Da kannst Du einen drauf lassen 😉