Unser Leben wird von Fotografien, Fernsehen, Film, Video, Anzeigen usw. geprägt. Bilder wurden und werden für das visuelle Wahrnehmen, das Sehen, gestaltet. Sie sind durch formale Strukturen bestimmt, wie zum Beispiel Farben, Linien und Formen. Designprinzipien wie Anordnung, Proportion und Balance. Sie beeinflussen in ihrer Komposition die Wahrnehmung des Betrachters. Dazukommt, dass Fotografien oder Filme meistens nicht als Botschaften aufgefasst werden. Sie nehmen dann über das Unterbewusstsein Einfluss auf die Vorstellungen von Menschen und der Welt. Wer die Muster und Methoden kennt, *er*kennt sie, kann sie beschreiben, analysieren und interpretieren. Der kann sie auch einsetzen. Der kann mitreden.
Il faudra leur dire – Visual Literacy
« Visual literacy » ist der auch im germanischen mehr und mehr gebräuchliche Fachausdruck für solche Kenntnisse. Visuelle Lesefähigkeit, visuelle Kompetenz, Bildkompetenz. Es ist nicht unbedingt « eine » Fähigkeit, sondern eher ein ganzes Set von Hilfsmitteln, von Elementen und Mustern, die es möglich machen, eben diese Dinge zu entdecken, zu beschreiben und ihnen eine Bedeutung zuzuweisen. Visual literacy erlaubt eine Bedeutung von *allem*, was wir sehen, zu erhaschen. Visual literacy ist der Vorgang, mit Bildern Mitteilungen zu senden und zu erhalten, mit Bildern zu kommunizieren. Das bezieht sich auf alles, was uns heute so umschwirrt – Fotografien, Werbeanzeigen, Kinofilme, Videos aller Sorten. Bei den sich bewegenden Bildern kommt noch Ton in allen Facetten dazu, der ebenfalls seinen eigenen Mustern gehorcht und zusammen mit den Bildern vor allem unser Unterbewusstsein mit seiner ganzen Gefühlsduselei überrumpeln will. Das auch noch auseinanderklamüsern zu können nennt sich dann intermediale Kompetenz.
Wer nicht allem und jedem auf den Leim gehen will, sollte sich eine ganz gehörige Menge an Bildkompetenz aneignen. Das Tolle : Das kannst du alles auch selber anwenden, wenn du Bilder machst. Die fesseln dann den Betrachter.
Look. See. Describe. Analyze. Interpret. Give a meaning
If people aren’t taught the language of sound and images, shouldn’t they be considered as illiterate as if they left college without being able to read or write?
– George LUCAS
Visuelle Kommunikation begegnet uns und immer und überall. In der Kunst und Kunstgeschichte natürlich – für die Analyse von Kunstwerken (deren zeitgeschichtliche Einordnung kommt übrigens noch on top, auch bei Fotografien, um die Botschaften einigermassen richtig zu entschlüsseln – Das Titelbild von Robert FRANK « The Americans », « Trolley in New Orleans », ist nämlich ein Hieb auf die Rassentrennung. Guck hin, es fällt auf. Wenn man weiss, was zu der Zeit des Erscheinens da drüben losgewesen ist …). Als Design sowieso – fummel nach Gestaltpsychologie. Bei jeder Ideologie – Werte, Ideen, Glaube ; Symbole ohne Ende. Ikonologie – Symbole. Auf dem Gebiet der Semiotik – jedes Schild, jeder verbildlichte Hinweis, jedes schnöde icon. Hermeneutik – bei der Interpretation von Texten und des Verstehens, weil überall mit Symbolen jeglicher façon hantiert wird. Jede Zeitschrift ist aufgebaut und aufgemacht, wie sie aufgebaut und aufgemacht ist, weil der Leser (oder auch nur Betrachter) auf irgendetwas gestupst werden soll. Scharenweise Designer verdienen sich goldene Nasen, weil sie wissen, was bei uns wie angetriggert werden will, damit wir irgendwas machen. Meistens (nicht nur) deren Vermögen weiter mehren.
Stil und Vision in deiner Fotografie
Zur visuellen Kompetenz gesellt sich deine Versiertheit im Umgang mit der Kamera, wie du die visuellen Elemente umsetzt. Was du an visuellen Elementen umsetzt und die Art und Weise, wie du das tust, was sozusagen deine Vision ist, was da an Ästhetik dabei ist, das wird allmählich dein Stil. Betonung auf « allmählich », das braucht Zeit, das wird sich entwickeln. Je mehr du übst und fotografierst, desto klarer, erkennbarer. Auch nur dann, denn eine Abkürzung, die gibt es nicht.
What people think as of a ‘style’, it is technique. But what it really is, is your vision, your photo-DNA. Technique is always second. ‘Style’ is how your vision uses the technique.
– Gregory HEISLER
Stelle dir die richtigen Fragen
Wenn du eine Fotografie betrachtest, die aus welchen Gründen auch immer etwas in dir auslöst, dich in den Bann zieht, stelle dir ein paar Fragen :
- was sind die Dinge für dich, die dieses Bild beguckenswert machen, dich anziehen ?
- Ist es eine Geschichte ? Was für eine Geschichte ?
- sind es grafische Bestandteile ? Welche ? Linien, Umrisse, Formen ? Kontraste ?
- ist es die Stimmung ? Ein bestimmtes Gefühl, welches in dir ausgelöst wird ? Wie hat der Fotograf das umgesetzt ?
- versuche herauszufinden, was für dich das « Herz » des Bildes ausmacht. Was ist der emotionale Kern ? Ist das « eine Sache », die sofort erkennbar ist ? Oder machen über das Bild verteilte Elemente diesen Kern aus ?
- denke in « Energien ». Was zieht deinen Blick an ? Sind es Kontraste in all ihre Facetten ? Sind es Linien ? Diagonalen ? Horizontale ? Vertikale ? Ist es vielleicht die Position und Positionierung der Elemente ? Deren Balance, deren « Gewicht » in Grösse und Position ? Sind es die Farben und Farbmuster ? Leuchtende Farben oder eher gedämpfte ?
Lass dir Zeit dafür. Nimm dir die Zeit auch. Schreibe die Sachen auf, die das Bild für dich persönlich « gut » machen (das geliebte Notizbuch, kleb die Bilder ein. Oder am Rechner, egal. Male im Bild rum, ziehe Pfeile von deinen Anmerkungen zu den für dich wichtigen Sachen.) Je mehr Bilder du betrachtest und dir diese Fragen stellst, desto mehr kristallisiert sich heraus, auf was du so stehst. Es werden bestimmte Sachen immer wieder auftauchen. Das wirst du im Zweifel auch in deinen eigenen Bildern zeigen, ausdrücken wollen. Das könnte « dein Stil » sein oder werden. Nimm sie mit, diese herausgearbeiteten Sachen. Inspirationen, auch für später.
Das « Warum »
Dabei wirst du auch eine Antwort darauf finden, « warum » du fotografierst, was du fotografierst, was dein Antrieb hinter der Sache ist. Du musst weder in Krisengebiete, noch an die dollsten Orte dieses Planeten – gewöhnliche Dinge des täglichen Lebens, deren und dessen « Banalität » kann ebenfalls sehr sehr spannend präsentiert werden.
Forsche mal nach der Serie « Pepper » von Edward WESTON. Form, Textur, Licht und vor allem Schatten. Ich finde die hochspannend. Ebenso « Flowers » von Irving PENN. « La fourchette » und « Les lunettes et la pipe de Mondrian » von André KERTESZ. « Ripening Pears on Windowsill », Sam ABELL. Spielereien, Fingerübungen mit Licht an Sachen, die « einfach so da waren ». Dagegen sind die Masse der in diesem Internet schwirrenden Bilder von Island langweilig, weil immer gleich. Die immer gleichen Motive, der da dann auch immer gleiche Standort, die immer gleichen Langzeitbelichtungen, die immer gleichen Weitwinkel – die sich immer und immer wiederholenden, eigentlich nur kopierten Bilder mit immer denselben presets. Immerhin freut es den Tourismus auf der Insel. Die waren halt alle da. Und da auch. Und müssen das auch unbedingt zeigen. … Selbst mein Hinterhof und meine Küche sind spannender und halten meine Experimentierfreude auf Trab. Die Motive wollen zum Spielen nur entdeckt werden. Schnapp dir einen beliebigen Gegenstand und mache von und mit dem 36 Bilder. Muss weder am gleichen Ort noch mit demselben Licht passieren. Du wirst überrascht sein. Das Warum dabei ? Eine Fingerübung, um die Kreativität in Schwung zu halten.
Das « Was »
Du wirst – zumindest unterbewusst – auch eine Antwort auf das « Was fotografiere ich ? » finden. Denn du wirst dir Bilder angucken, zu denen du eine Verbindung hast, Sachen, die du magst, die dein Steckenpferd sind. In welche Richtung, welches Metier es geht oder auch gehen könnte. Wir entwickeln uns (hoffentlich) alle weiter. Fotografiere das, was dich interessiert. In solche Sachen hängst du dich tatsächlich rein. Das, worin du richtig Zeit und Mühe und Schweiss investierst, das wird nachher auch eher ordentliche Ergebnisse nach sich ziehen. « Sind deine Bilder nicht gut genug, warst du nicht dicht genug dran. » Dieses vielgequälte Zitat von Robert CAPA bezieht sich nicht nur auf die physische, sondern auch auf intellektuelle Nähe. Deutlich schwieriger wird unbekanntes Terrain. Lass es erst einmal bleiben, es wird später kommen. Durch Spielerei mit den grundlegenden Geschichten Licht und visuellen Elementen.
Es spricht auf der anderen Seite rein überhaupt nichts dagegen, wenn deine Fotografie « Feld-, Wald- und Wiesenfotografie » ist. Gar nichts. Es hat noch nie geschadet, seine Fühler in viele Richtungen auszustrecken. Je mehr Motivwelten du kennst, je mehr du (wissentlich) gemacht hast, desto weniger bringen dich « neue Sachen » in Verlegenheit. Stelle die Fragen von oben.
Das « Wie »
Kümmere dich um die Frage, wie der Fotograf das, was dich fasziniert, was für dich *die* Stimmung, *den* Kern ausmacht, umgesetzt hat. Die Kamera, die beherrschst du im Schlaf. Du solltest dazu auch wissen, was sie dir an Möglichkeiten bietet. Und wie mit diesen Möglichkeiten deine Vorstellungen umgesetzt werden können. Gefühle, zum Beispiel. Das geht. Unsicherheit, Ungewissheit was kommen mag – wie wäre es statt des starren Blicks in die unendlichen Weiten des negative space mit Unschärfe ? Paolo ROVERSI hat es in der Juliausgabe der Vogue Italia « being 16 » vorgemacht. Oder Doppelbelichtungen, vielleicht ? Probier es aus. « Vergehende Zeit », Geschwindigkeit ? Langzeitbelichtung. Mit fester Kamera und Spuren vorbeiwischen lassen. Panning, um den Hintergrund vorbeiwischen zu lassen. Dein Aufsteckblitz kann Stroboskop ? Dann splitte die Bewegung auf. « Bullfight » von Ernst HAAS zeigt, wie eine weitere visuelle Ebene bei an und für sich « schneller action » hinzugefügt werden kann.
Was lässt sich mit absichtlicher Überbelichtung erreichen, ausdrücken ? Wenn Personen und Gegenstände in einem Meer von « hell » verschwinden kann das Gedanken, Träume oder auch Panik verbildlichen. Kurz vor dem Schritt in den tiefen Fall, bei dem wir aus dem Schlaf hochschrecken. Und absichtliche Unterbelichtung ? Wenn Abendstimmung auch helligkeitsmässig in der Gesamtheit « Abend » erzählt und nicht allein auf beleuchtete Fenster setzen muss, weil die Kamera immer noch der Meinung ist, 18% Grau sei jetzt geil. Was macht eigentlich eine Verschlusszeit von 1/4 Sekunde bei Blende 2 ?
Was machen Linien in deinem Bild bei welcher Brennweite ? Mit Weitwinkel kannst Du den Weg zum Hauptmotiv sehr weit werden lassen. Oder mit so richtig weitem Bildwinkel auch extrem beschleunigen. Kommt auf die Linien an, probier es aus. Und was tut sich mit dem Ding eigentlich so aus Bodenhöhe ? Welche Momente gehen mit dieser und jener Kombo gut und ab wann irgendwie nicht mehr ? Oder so gar nicht ? Weiss nicht nur das Gerät per se zu bedienen, gucke auch, welche Möglichkeiten dir es im wahrsten Sinne des Wortes an die Hand gibt. Lerne zu sehen, wie die Kamera mit Optik « sieht ». Lerne, Licht zu sehen. Umrisse und Formen, Linien, Farben.
Visuelle Muster
Nun der spannende Teil. Wonach ist denn zu gucken ? Ich habe das mal als kleine Tabelle gebaut. Absolut unwissenschaftlich, nur das, was fotografisch lohnenswert ist. Wer tiefer einsteigen möchte, der füttere die Suchmaschine des Vertrauens mit « design principles » und forsche von da ausgehend weiter. Es werden die unten aufgeführten Sachen mit dabei sein 😉
abstrakte Muster | kompositorische Muster |
Farbe | Rahmen / framing |
Kontraste | Linien |
Gegenüberstellung / juxtaposition | Licht und Schatten. Vor allem die Schatten |
Balance | Texturen / Muster |
visuelle Hierarchie / Gewicht | Wiederholungen |
Minimalismus | « Fluchtpunkte » |
positive / negative space | figure-ground / Überlappung |
Grösse / Verhältnis | Drittel / goldener Schnitt / inneres Gerüst (Armatur) |
Die kompositorischen Muster sind wie die Grammatik einer gesprochenen Sprache, die abstrakten das Salz in der Suppe.
Das « Geheimnis » meisterhafter Fotografien ist die Fähigkeit des Fotografen, diese Muster zum sprechen zu bekommen. Entwickle, erweitere dein « Lexikon » an visuellen Begriffen, beherrsche sie gewandt und elegant. Verstehe und erkenne in einem Bild die Muster und gib ihnen Bedeutung. Freunde dich mit ihnen an, übe solange, bis du vertraut mit ihnen bist. Bis du mit ihnen per Du bist. Finde sie in der realen Welt und richte sie appetitlich in deinen eigenen Bildern an.
Viele dieser Elemente nehmen auf das Unterbewusste Einfluss. Auf das, worauf wir mehr oder weniger ab dem ersten Atemzug hin konditioniert werden, was wir mitbekommen ohne es tatsächlich « bewusst » zu registrieren. Andere sind « offenkundiger » und je sauberer dargereicht, desto schöner. Wenn sie bekannt sind. Für Hein Tech und seine Jünger ist das alles « befremdlich » und so ziehen sie derweil mit ihrem Bollerwagen voll Krempel los, knipsen vor sich hin und brabbeln was von noch besserem Autolokuspokusfokus und mehr Pickeln und dann könnte man ja auch so riiiichtig und überhaupt. Die Kamera in der Werbung sieht aber auch lecker aus. Und die aufbereiteten Bilder erst, die da gezeigt werden. Sie werden nie verstehen, warum mit ihren Machwerken nur die Kasse der Hersteller klingelt, aber ein nicht verwandter oder verschwägerter oder auch nur befreundeter Betrachter eher nicht das Mitsummen anfängt, am und im Bild verweilt und sich wegträumt, weil es ihn anspricht. Statt dessen macht *nur* das rote Schäufelchen mit dem grossen Löffel die tollen Sandburgen. Und nie das kleine. Nein ! Das gelbe ! Héhé ; es ist jedes Mal aufs Neue belustigend. Visuell auf dem Stand Krabbelgruppe, aber possierlich.
Schicker Nebeneffekt ist auch, dass Geld gespart werden kann. Mit so einigen von den visuellen Mustern brauchst du schlagartig gar nicht mehr diesen Offenblendterror mit f1.4 oder – schubberschubberschubber – f0.95. Der Blick des Betrachters kann so fein mit visuell schöneren Mitteln geleitet werden, statt ihm mit dem Vorschlaghammer vor die Augen zu dreschen Hier ! Sollst ! Du ! Hingucken ! Wie unhöflich. Hein, Hein, Hein – der hat einfach keinen Benimm 🤔 . Selbst wenn recht offene Blende im Einsatz ist – es sieht « gekonnter » aus, wenn weitere unterstützende Elemente dazukommen. « Hier so schau doch auch zu mir, mir holde Maid gar so allein » ist irgendwie ein klein wenig etwas anderes, als « POPPEN ?! ». 🤨 🤮
Und : Es funktioniert youpi doupi auch mit dem Technologiewunder in deiner Hosentasche. Sensorgrösse ist absolut nebensächlich, wenn das Bild in sich stimmig ist. Punkt.
Ich werde zu den Mustern Beiträge schreiben. Du kannst das als « Hausaufgabe » begreifen und dich ein, zwei Wochen täglich mit *einer Sache zur Zeit* auseinandersetzen. Mit der Zeit wirst du sie miteinander kombinieren, zu kombinieren wissen. Beim Zusammenwürfeln übertreibe es nicht, halte es simpel. Rockt erstens in fast allen Fällen und zweitens erspart es heftigen Frust. Es ist wie beim Sport : Übung, Übung, Übung jedes einzelnen Ablaufes. Immer und immer wieder. Bis es sitzt. Bis die Schludereien ausgemerzt sind. Dann den nächsten, dann zusammen. Wer zuviel auf einmal will, der wird anfällig für Fehler. Wenn die sich erst einmal so richtig eingeschlichen und festgesetzt haben, wird es übel, die wieder loszuwerden. Habe ich irgendwo schon einmal geschrieben : Die berühmten 10’000 Stunden zur Meisterschaft mit Fehlern lassen dich nur meisterhaft diesen Fehler zeigen. Und wenn der dich nervt, aber nicht auskuriert wird, wirst du andere Sachen machen wollen. Neue Kamera kaufen, zum Beispiel. Die kann mehr, die muss die besseren Bilder machen 😉
Das wirkliche Werkzeug der Fotografie ist die visuelle Sprache, das visuelle Design. Fotografie ist, wie wir mit den visuellen Elementen und Mustern umgehen, wie wir sie einsetzen. Wie die Kamera dazu benutzt wird. Wie wir die Möglichkeiten, die die Kamera und Objektiv uns jetzt in diesem Moment bieten, einsetzen. Dann *machen* wir Fotografien. Völlig gleich, welche Kamera oder Telefon, egal, wo wir gerade sind. « This guy doesn’t fear any light nor object. » Ging runter wie Öl 😉 Du wirst noch dahinterkommen, woran das dann liegt.
Stay tuned 😉