publié le 6 novembre 2021

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Negative space hat die Kraft, ein Bild emotional wesentlich zu beeinflussen. Negative space ist die Stimmung, das Gefühl (in) einer Fotografie. Der Raum kann in Bezug zum Hauptmotiv treten, es kann Leichtigkeit, Helligkeit, luftig wirken. Es kann die positiven Gefühle verstärken, romantisch sein, fröhlich, nobel, edel, wertvoll und grosszügig. Es kann auch Einsamkeit und Zweifel hervorrufen. Richtig eingesetzt kann es derlei Gefühlsregungen unterstützen, hervorheben. Falsch benutzt verkehrt es sich ins Gegenteil.

Entrances confused with Dead Ends

Das Modell postive / negative space hatte ich schon einmal angerissen, jetzt geht es ans Eingemachte. In grauer Vorzeit herrschte horror vacui  (lat. « Angst vor der Leere », geht allerdings zurück bis olle Aristoteles) vor. Das äussert sich darin, dass der gesamte zur Verfügung stehende Platz / Raum (einer Leinwand, einer Wand) vollgepfropft wurde mit Elementen, Figuren, hastenichtgesehen. Schöne Beispiele sind die Werke aus dem Mittelalter. Die sind auch ordentlich gemacht, da wirken auch andere Sachen, aber sie waren « voll » bis Anschlag. 

L’Apocalypse figurée : La Chute de Babylone, la grande prostituée
L’Apocalypse figurée : La Chute de Babylone, la grande prostituée par Jean DUVET, v. 1555, Bibliothèque municipale de Lyon (Rés 21911, f. 41)

Gestalt

Ab den 1910er Jahren haben sich ein paar schlaue Köpfe darüber hergemacht, wie Mensch eigentlich so tickt und sieht und die Welt um ihn herum wahrnimmt. Gestalt Psychologie kommt aus dem Bereich der Wahrnehmungspsychologie und « basiert » auf der Funktionsweise des Dingen unter der Schädeldecke, sich alles so einfach wie möglich zu machen. Dabei versteht die Gestaltpsychologie das komplexe Ganze nicht als Zusammenwirken dessen einzelner Teile, sondern erst die dynamischen Prozesse innerhalb unseres gesamten Wahrnehmungsspektrums lassen uns darüber entscheiden, was ein Teil und was das Ganze ist. Das Ganze und ein Teil interagieren miteinander ; ohne das Ganze kann ein Teil nicht bestimmt werden und ebenso kann ein Teil ohne das Ganze nicht bestimmt werden. « Das Ganze » wird dabei in Prinzipen aufgeteilt : Prägnanz, Ähnlichkeit, Nähe, Geschlossenheit, (gute) Fortsetzung
Es wurde munter geforscht und der Gestalteffekt beobachtet. Der Gestalteffekt tritt im Gehirn auf, wenn es auf Gruppen von Linien, Kurven oder Formen trifft und wie es diese einzelnen Bilder verwendet, um ein vollständiges Ganzes zu bilden. Das stiess bei Menschen, deren Arbeit viel mit Wahrnehmung zu schaffen hat, auf gesteigertes Interesse und so haben sich bei den Designern und Grafikern ebenfalls « Prinzipien » herausgebildet : 

similarityÄhnlichkeit – Dinge, die einander ähnlich sind, scheinen ein vollständiges Ganzes zu bilden.
closureAbschluss – Wir sehen einen unvollständigen Kreis, und unser Verstand sieht ihn als einen geschlossenen Kreis.
proximityNähe – Dinge, die nahe beieinander liegen, scheinen sich zu einem vollständigen Ganzen zusammenzuschließen.
continuationFortsetzung – Wir sehen Dinge, deren Anfänge in eine Richtung zeigen, als Fortsetzung in die gleiche Richtung.
figure to groundFigur/Hintergrund – Wir nehmen Objekte entweder als Vorder- oder Hintergrund wahr.
symmetrySymmetrie – Dinge, die zueinander symmetrisch sind, werden als ein einheitliches Ganzes wahrgenommen.
common fateGemeinsames Schicksal – Wenn sich mehrere Dinge in dieselbe Richtung und mit derselben « Geschwindigkeit » bewegen, sehen wir sie als Teil eines Ganzen.

Hein Tech grinst leicht debil überheblich und plappert was von künstlerisch und subjektivem Mögen. Dabei beruht eigentlich alles, was ihn an von Menschenhand geschaffenen Dingen umgibt auf diesen Prinzipien. Jedes Heftchen, jede Zeitung, jedes Magazin, Verpackungen, Bedienoberflächen, Schilder und Schildchen, diese Internetseiten – alles Design. Wie Text und Bilder zueinander angeordnet sind, der Abstand zwischen Zeilen, die Schriftarten, wo welcher Knopf wohnt und warum der aussieht, wie er aussieht. Dabei ist recht sekundär, wie und was unser Gehirn sich zusammenbaut. Vor allem geht es darum, wie Hirn, wie Mensch über diese Prinzipien und den sich daraus ergebenden visuellen Mustern beeinflusst werden kann, etwas überhaupt wahrzunehmen, zu empfinden und damit, etwas zu tun. Das macht er auch, und meistens unbewusst. Und damit das auch fein funktioniert, ackern die Designer und sonstige Menschen, die was mit Bildern zu schaffen haben, hart daran. Da ist erst einmal recht wenig künstlerisch und schon gar nicht hängt da ‘Geschmack’ mit dran. Das ist eiskalte Berechnung, komplett objektiv.

Negative und positive space

Einfach über den Daumen gesprochen ist negative space der Bereich um und zwischen Objekten innerhalb eines Rahmens. Es ist der Bereich ausserhalb des Hauptobjektes. In Gestalt (« figure-to-ground » ) würde man sagen, dass das Subjekt die « Figur » und der negative Raum (negative space) der « Grund » ist. (Designer nennen es auch « white space », weil sie in aller Regel mit einem weissen, leeren Bogen oder einer leeren, weissen Webseite anfangen und innerhalb deren Rahmen Elemente anordnen.) Der Begriff als solcher ist ein klein wenig irreführend, denn Raum ist alles andere als « negativ » ; dazu gleich mehr.

Positiver Raum ist der Bereich, den das Subjekt einnimmt. Es ist die Figur oder die Form, auf die sich unser Gehirn konzentriert, während der Rest « Hintergrund » ist. 

Wenn wir uns die Aufnahme einer Person vorstellen, die mit ausgestreckten Armen und Beinen vor einem strahlend klaren Himmel steht, ist der positive Raum der Bereich, in dem du die Person siehst, während der negative Raum der Himmel um sie herum ist.
Ist die Person « richtig » belichtet, wird der Himmel sehr hell erscheinen bis hin zu komplett ausgefressen « weiss ». Wird die Belichtung auf den Himmel genommen, dann ist die Person eine dunkle Silhouette, aber der positive Raum ist immer noch die Person und der negative Raum ist immer noch der umgebende Himmel. Dein Hirn konzentriert sich auf die Person und nimmt den Raum um sie herum nicht bewusst wahr. (Das liegt auch mit daran, dass wir Personen im Bild, egal wie gross, immer als erstes suchen und auch finden. Scheich und Scheich und so, aber das soll erst einmal nachrangig bleiben – statt des Menschen kann da auch ein Baum sein.)

An diesem Beispiel ist einigermassen zu erkennen, wie der negative Raum die Funktion der Definition des Themas hat. Da das Motiv dunkel und vielleicht sogar ganz schwarz ist, können wir keine Details seines Körpers sehen. Dennoch führt der klare Himmel um den Körper und zwischen den Armen und Beinen unsere Wahrnehmung dazu, die Silhouette zu sehen und sie als menschliche Form zu erkennen. Funktioniert auch mit Schatten 😉 .

Negative space ist mehr als « leerer Raum »

Diese einfache Definition sowie die gerade beschriebenen Beispiele könnten uns zu der Annahme verleiten, negative space sei leerer Raum.
« Raum » ist nämlich auch eng mit unserer Wertwahrnehmung verbunden. Untersuchungen auf dem Gebiet der Werbung haben gezeigt, dass der wahrgenommene Wert umso mehr sinkt, je überladener ein Schaufenster ist. Während beispielsweise Bekleidungsgeschäfte die Schaufenster häufig so gut wie möglich füllen, zeigen High-End-Boutiquen oft nur eine Schaufensterpuppe.

vitrine à Munich. VOGUE
vitrine à Munich. VOGUE. Hab ein Auge auf die « Auslage ».

Insbesondere Apple treibt seit langem Design voran, für ihre Werbung auch gerne auf die Spitze, und ist ein Beispiel dafür, wie negative space genutzt werden kann, um den wahrgenommenen Wert eines Produkts zu steigern.

presentation Apple Macbook Pro 2021
presentation Apple Macbook Pro 2021. Viel white space, das ist gut. Visuell arbeitet vieles daran, dass nun nach unten gescrollt werden möchte. Quasi alles an vorhandenen Dreiecken zeigt als Pfeilspitze nach unten. Geht aber nicht. Es will tatsächlich der blaue button oben gedrückt werden. Chance für « top notch » vermasselt.

Soviel zur Auffassung, dass white space leerer, verschwendeter Raum ist 😉 . Wird white space als aktives Element und nicht als passiver Hintergrund betrachtet, so kann die Wahrnehmung zielgerichtet gesteuert werden. Im Webdesign wird viel Hirnschmalz darauf verwendet, ob ein Element doch lieber weggelassen werden kann, wie und wo ein Element positioniert wird, um die Lesbarkeit zu erhöhen, Inhalte zu priorisieren und den Benutzer mit wiedererkennbaren und leicht zu findenden Elementen zu führen.

In der Fotografie ist es ähnlich. Negative space ist der Himmel, eine Wand, ein Bürgersteig, eine Strasse, eine Wiese, ein Wald, ein Teich – eigentlich jede große Fläche mit relativ einheitlicher Farbe oder Textur, selbst wenn sie sehr schwach oder verschwommen ist. Denn negative space hat Gewicht und Masse, die dazu beitragen, das Motiv zu definieren. 

Damit kann festgehalten werden : Negative space ist jeder unaufdringliche, scheinbar unwichtige Bereich wie Hintergrund oder Vordergrund, der die Aufmerksamkeit des Betrachters eher unberührt lässt und dabei hilft, die Form, Aktion oder Größe des Motivs zu definieren und zu verbessern. Es unterstützt, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Hauptmotiv zu lenken.

Das Faszinierende an positive / negative space, figure-to-ground, Sujet und Hintergrund – egal, welcher dieser Begriffe benutzt wird – ist, dass sie voneinander abhängig sind. In taoistischer Manier erschaffen sie sich gegenseitig. Der Raum wird definiert, wenn ein Objekt darin plaziert wird und das Objekt wird durch den Raum um ihn herum definiert.

Negative Space « sehen »

Negative space ist etwas, das an unseren Augen « vorbeigeht ». Beim Fotografieren kann das ergo leicht « übersehen » werden. Trainiere dein Auge, dein Hirn, sich auch auf den Raum um das Motiv herum zu konzentrieren, statt nur auf das Motiv selbst. Die Kamera ist gnadenlos und zeichnet alles auf, was da so ist ; die ist kein Hirn, das Sachen einfach ausblendet. « Achte auf den Hintergrund » hat durchaus eine Berechtigung, insbesondere in der Portraitfotografie draussen am Busen der Natur 😉 . Die berühmten Äste an und aus Köpfen. Was vorab helfen kann : Kneife deine Augen soweit zusammen, bis du quasi durch den Wimpernvorhang peilst. Konturen werden verschwinden, ebenso ein Gros an Farbnuancen. Übrig bleiben die spaces. Versuch das mal, das rockt.

Wenn du Bilder beguckst, um negative space zu beurteilen, drehe das Foto zur Seite oder auf den Kopf. So überlistest du den Teil des Gehirns, der Dinge kategorisieren und benennen will. Dein Auge aber bekommt die Chance, nur die Formen des Motivs und des Raums zu bemerken und wie sie miteinander interagieren. Dabei wirst du feststellen, dass negative space überall in einem Bild erscheinen kann : normalerweise an den Rändern, wenn sich das Motiv nahe der Mitte befindet, aber manchmal auch in der Mitte. Wenn die Verhältnisse stimmig sind, ist das Bild ordentlich – auch, wenn es umgedreht wird. René BURRI und auch Henri CARTIER-BRESSON waren berüchtigt dafür, Portfolios « über Kopf » zu begutachten. 

Denke an den Rahmen

Der Rahmen spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung, unabhängig davon, ob dieser Rahmen aus den Rändern eines Abzugs, denen deines Monitors oder dem Sucher der Kamera besteht. Der Rahmen begrenzt den Außenraum, während positive space (das Subjekt) ihn nach innen begrenzt. Die Musik spielt nur innerhalb des Rahmens. Framing hast du noch parat ? Sehr schön 😊

aligner pour la course de l'aviron
aligner pour la course de l’aviron

Negative space wird immer von den Kanten des Rahmens geformt. Es ändert sich ständig in Größe und Form, wenn du die Kamera – und damit den Sucher – bewegst, um verschiedene Möglichkeiten zur Begrenzung des Raumes zu finden. Die Proportionen und das Gleichgewicht von negative und positive space verschieben sich, manchmal ästhetisch ansprechender, manchmal weniger. Wenn das Motiv den größten Teil des Bildes ausfüllt, ist der Negativraum kleiner, als wenn das Motiv nur einen Teil des Bildes ausfüllt. Das Verhältnis von negativem zu positivem Raum, deren Balance zueinander, kann die Komposition fördern oder das Bild zu einem Fall für die Tonne werden lassen. Und noch einmal anders wird es, wenn positive space die Ränder des Rahmens berührt und sogar über ihn hinausgeht. Da kann es dann sehr flott fisselig werden.

Du bist schon recht weit vorne, wenn du dir beibringst, negative space aktiv zu sehen, wenn du durch den Sucher guckst, um eine Aufnahme zu machen. Als Trockenübung für zuhause kannst du die Größe und Form des Bildes ändern, indem du munter schnippelst. Der Kamerasucher gibt vor, in welchem Seitenverhältnis das Bild ist. Da hat das Zuschneiden den Vorteil, als verschiedene Breiten und Höhen a.k.a. Formate ausgewählt werden können. Das verschafft dir etwas Freiheit bei der Anpassung der Größe und Position des negative space relativ zu deinem Hauptmotiv. Königsklasse ist und bleibt aber, so etwas bei der Aufnahme zu berücksichtigen und da auch schon zu erkennen, was nachher vielleicht als 5:4, 7:5 oder 1:1 zum Tragen kommen wird. Dieses Vorgehen ist sauberer, als hinterher zu gucken, ob das Bild überhaupt ein Motiv enthält und dann drumrumzuschnippeln. Denn Ersteres ist das Ergebnis bewussten Sehens.
By the way : Guck mal in der Bedienungsanleitung zum schwatten Zauberdingen nach, ob und wenn ja welche Formatverhältnisse es dir sowieso schon zur Verfügung stellt. Ich mag 5:4 sehr gerne und meine Kamera bietet mir das auch an. Schicke Sache. 

« Strategien » für negative space

Noch einmal zur Erinnerung : Während sich negative space auf den Bereich bezieht, der das Hauptmotiv oder die Hauptmotive in einer Fotografie umgibt, ist positive space das primäre Motiv einer Fotografie. Bei der Technik der effektiven Nutzung von positive und negative space geht es darum, die « richtige » Beziehung zwischen Hauptmotiv und einem Hintergrund zu schaffen, damit der sich fast so anfühlt, als wolle er sich zurückziehen. In einer angenehmen Kompositionen können die beiden zum Paartanz gebracht werden, um die richtige Wirkung zu erzielen. Mehr Tango, yeah !

Raumverteilung

Das mittige und formatfüllende Arrangieren eines Motivs führt dazu, negative space zu neutralisieren. Es wird an den Rand des Bildes gedrückt und das wars dann. Eine zentrale und nicht formatfüllende Position des positive space macht negative space gleichmäßig und symmetrisch. Damit erzeugst du ein ruhiges, formales Gefühl beim Betrachter. Es kann aber auch statisch wirken und wird damit für die Auge-Hirn-Zusammenbastelkombo « langweilig ». Das Plazieren eines Motivs außerhalb der Mitte kann negative space aktivieren und zum Leben erwecken. Ungleichmäßig verteilter Raum kann die Elemente eines Bildes besser verbinden, da sie für das Hirn gruppiert erscheinen. Dazu folgt noch ein Beitrag 😊. Gleichmäßig verteilter Raum führt dazu, dass Elemente unabhängig voneinander schweben. Balance nicht ausser Acht lassen. Ist diese Verteilung durchdacht, bleibt der geneigte Betrachter länger als eine Millisekunde bei der Sache.

Negative space kann Formen haben 

Beguck dir gerne auch einmal, ob negative space eine Form hat. Das geht, echt jetzt.

IJdok
IJdok. Das « M » siehst du ? Dann auch das « E » und das « W ».

Der Vorschlag von eben, das Bild mal auf die Seite oder auf den Kopf zu drehen. Ist es interessant? Wie ergänzt, widerspiegelt oder kontrastiert negative space die Form des Hauptmotivs ? Aber Vorsicht : Negative space mit einer sehr interessanten Form kann mit dem Thema konkurrieren. Es kann zum Thema werden. Oder es kann eine figure-ground-« Umkehrung » entstehen, bei der sich Raum und Motiv als Fokus des Auges abwechseln, was zu einem Gefühl von Bewegung, Konkurrenz und Spannung zwischen Figur und Grund führt bis hin, dass das Auge ausgetrickst wird. M.C. ESCHER lässt grüssen.

M.C. ESCHER, Lucht en Water I, houtsnede, juni 1938
M.C. ESCHER, Lucht en Water I, houtsnede, juni 1938

Rattan
Rattan

Wenn die Elemente eines Bildes einen « Abschluss » erzeugen, können sie die Form von negative space aktivieren – zum Beispiel eine geschwungene Reihe von Stühlen, die einen Kreis suggerieren. Hier auf dem Foto des zur Seite gedrehten Rattantisches ist der Tisch das Thema oder figure oder positive space, und doch ist der eingeschlossene Raum der verschwommenen Hintergrundbäume vom Tisch so geometrisch geformt und präzise eingerahmt, dass er als figure um Aufmerksamkeit wetteifert : Unser Auge wechselt zwischen negative / positive space als figure to ground hin und her.

(Keine Panik, zu figure-ground werde ich mich ebenfalls noch auslassen – das ist eine der feinsten Spielereien mit visuellen Mustern, die wir so haben 🙂 )

Eine Frage der Menge 

Manche möchten in einer Komposition gleich viel negative und positive space schaffen, um ein harmonisches Gleichgewicht herzustellen. Ein Gang auf schmalem Grat. Zu viel oder zu wenig von dem einen oder anderen kann ein Foto ruinieren, wenn die Gesamtkomposition umständlich oder instabil erscheint. Ein Viel an negative space kann das Motiv unbedeutend, substanzlos oder verloren erscheinen lassen. Richtig wenig lässt das Hauptmotiv verkrampft und das Bild zu eng wirken ; es gibt kein Gefühl von « Resorbierbarkeit », es wird aufdringlich. Mit solcherlei Hintergedanken lässt sich der Betrachter durchaus manipulieren, vor allem bei Serien und in Essays.

fool on the hill
fool on the hill

Ein perfektes Gleichgewicht ist häufig weder erforderlich noch wünschenswert. Das Spielen mit den Proportionen von negative zu positive space kann zu interessanten Ergebnissen führen. Ein großzügiger Platz kann das Motiv hervorheben. Wenn das Motiv größer wird, beginnt es, den Raum zu aktivieren und auszubalancieren, und erreicht schließlich einen Punkt, an dem die Figur den « Boden » (ground) dominiert, insbesondere wenn der Raum gleichmäßig verteilt und in seiner Form uninteressant ist. Wenn das Motiv klein ist und die Form des negative space interessant, dominiert der « Boden » die Figur. In einigen Kompositionen kannst du das Gleichgewicht zwischen negative und positive space absichtlich stören, um ein Gefühl zu erzeugen, dass das Motiv unbeholfen, instabil, unbedeutend, beengt oder verloren wirkt – wie auf dem Foto des Bengels auf dem Hang.

Richtungsweisend, aber wie 

Negative space kann ein Richtungs- und Bewegungsgefühl erzeugen, welches die Richtung und Bewegung des Motivs (positive space) ergänzen oder kontrastieren kann. Viel leer auf der Unterseite erzeugt ein vertikales « Up »-Gefühl. Obenrum betont  « unten ». Auf der linken Seite das grosse Nichts schiebt Elemente nach rechts. Andersrum halt andersrum. Negative space kann den Blick in ein Bild hineinziehen oder aus dem Bild herausführen. Ein immer wieder gern gesehener Klassiker : Model auf Drittellinie links im Bild, Blick nach rechts in Nichts und schwupp ! wird die Seite umgeblättert oder weitergeklickt. Cool hingegen bei Websites, wenn so ein Portrait links neben Text auftaucht. Der Text wird gelesen. Ist so. Psycho. Funktioniert. Ist Kopp allerdings weit links und guckt dann auch noch nach links, ist Asche. Dann wird gerne schon mal « vorige Seite » aktiviert. Text wenn überhaupt, eher missmutig und widerwillig gelesen. Noch verheerender, wenn das Bildle zwar links neben dem Text ist, Kopp aber rechts positioniert und Blick nach links. Richtige Wand zum Text. Stahltür. Schon wieder Psycho. Ist aber so. « Ich mag dich nicht leiden, geh weg ! » in visuell und sehr direkt.

Taschenspielertricks ? 

Vergiss es. Vermeide, negative space als Trick zu verwenden, der zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Also negative space um des negative space Willen. Wie Offenblende, weil sie da ist. Es kann ablenken und die Aussage des Bildes beeinträchtigen. Zu gewollt. Zu offensichtlich. Billig. Der visuell gebildete Betrachter merkt das. 

Viel für das Gefühl 

une caresse dans la nuit
une caresse dans la nuit

Unterschiedliche Raumdarstellungen können unterschiedliche emotionale Reaktionen hervorrufen. Raum, ganz besonders viel davon, kann je nach Hauptobjekt Einsamkeit, Abwesenheit, Sauberkeit, Reinheit, Himmel, Fülle, Offenheit, Öde, Weite, Stille, Ruhe, Seltenheit, Qualität, Luxus, Stil, Reichtum, Großzügigkeit, Einfachheit, Verschwendung suggerieren, Arroganz oder Elite. Betrachte den Raum ruhig auch einmal als ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach emotionalem Wohlbefinden. Das psychologische Konzept des « persönlichen Raumes », des Bereiches, den Menschen wie eine Zone um ihren Körper haben, die sie als privat betrachten. Wir alle brauchen unseren Platz. Der Typ hinter uns an der Kasse mit seinem gammeligem Atem, der dringt ein, der ist nervig, polternd, vereinnahmend, rüpelhaft. Auch visuell, wenn du von einer solchen Situation ein Bild machst. Oder vertraut, bekannt, intim, wenn die Blicke und Körperhaltungen entsprechend sind.

Die Wirkung von negative und positive space in der Fotografie besteht häufig darin, ruhige Bilder zu erzeugen. Selbst wenn sich Objekte im Bereich des negative space befinden, kann der Größenunterschied zwischen dem Hauptmotiv und der Umgebung das Hauptmotiv oft isolierter erscheinen lassen. Dies kann je nach Motiv des Fotos Gefühle der Einsamkeit, Entspannung, Kontemplation verstärken.

promener aux Buttes Chaumont
promener aux Buttes Chaumont

Und wenn alle Stricke reissen …

… kann auch ein geringer Schärfebereich negative space schaffen, indem selektiv auf das Motiv fokussiert wird, während die Details im Hintergrund, Vordergrund oder beidem verwischt werden. Da unser Denkwunder eher ungern in verschwommenen Bereichen verweilt, lenkt dieses negative space das Auge gewissermaßen zurück auf das Motiv. Ein Fotograf wird allerdings zunächst alle anderen der ihm zur Verfügung stehenden visuellen Mittel ausloten und kombinieren, bevor die Notbremse f1.2 pur gerissen wird. Ist so, guck dir Bilder der tatsächlichen Könner an. 

« Hausaufgabe »

Neben dem Tip von damals mit dem Butterbrotpapier greif dir Zeitschriften, gerne mit hohem Werbeanteil. Geh die durch und beäuge, wie die Anzeigenfotos zusammengestellt sind. Handelt es sich bei der Anzeige um Kleidung ? Führt das Zuschneiden dazu, dass das Auge auf das Gesicht des Models oder die Kleidung wandert ? Überlege dir, durch was das innerhalb wie ausserhalb des Bildes gefördert wird. Forsche auch einmal, bei wievielen Kopf- und Schulterfotos die Oberseite des Kopfes den Rahmen berührt. Wie wirkt sich das auf das aus, was deine Augen zuerst tun und sehen ? Was meinst du ? Warum passiert das ? Konzentriere dich – du wirst zu einer Antwort kommen. (Mit den Werbegeschichten fange ich deshalb an, weil die von Anfang bis Ende von einer ganzen Horde Profis und viel, viel Hirnschmalz zusammengebastelt worden sind. Da ist alles, aber auch wirklich alles geplant und durchdacht und organisiert, das erleichtert die Suche nach den spaces ☺️ )
Schnapp dir Bildbände und flöh durch den Bildergarten auf der Suche nach positive und negative spaces. Nutze dieses Internet und geh auf die dortigen Auftritte der echten, guten Fotografen. Aaaaahrgs … AUS ! – die blöden Forengalerien und sonstigen Selbstbeweihräucherungsseiten mit ihren Katastrophen sind eine Fundgrube für Fehler. Echte, richtige, anerkannte Fotografen. Michael KENNA zum Beispiel – Hammer, wie der das mit diesen spaces macht. Oder Fan Ho. Fällste auch um. 

Dann greif dir deine eigenen Bilder. Tip für lau : Wenn du emotional mit einem Element des Prozesses, Themas usw. involviert bist, wird es haarig. Entweder du kannst es oder du gehst baden – den analysierenden Part des Hirns abschalten und positive wie negative space auch sehen. Es ist reine Übungssache. Unsere Tendenz geht aber doch eher in die Richtung, « den Foochl », « den Baum », « die bezaubernde Josephine » noch einmal gedanklich Revue passieren zu lassen, statt sich auf das Wesentliche zu beschränken. Du verarbeitest die Informationen, die von dir selbst stammen als Dinge, anstatt sie als Elemente des Bildes anzusehen.
Dreh das Bild seitlich oder auf den Kopf. Positive und negative space bleiben unabhängig von der Ausrichtung des Bildes im Gleichgewicht, hatte ich oben beiläufig mal erwähnt. Trickse den Teil des Gehirns aus, der – zusammen mit Erinnerung und Getüdel – Dinge in Kategorien einordnen und benennen will – dreh das Bild auf den Kopf. Es ist dann einfacher, die Formen von positive / negative space und die Abstände zwischen Rahmen und Motiv zu sehen. Meiner einer parkt ein Bild auch schon einmal ein paar Tage auf dem Couchtisch oder im Flur auf dem lütten Regal, damit ich es über einen längeren Zeitraum wirken lassen kann, manchmal auch schräg oder kopfüber. Die, die diese Art Prüfung überleben, gehen ins Portfolio.

Verstehe es richtig : Hast du überwallende Emotionen zu einem Bild und das ist in Sachen positive / negative space eher mässig und von den sonstigen visuellen Mustern auch nicht so dolle, dann ist das vollkommen in Ordnung. Aber behalte es lieber für dich, denn es der grossen Öffentlichkeit zum Frass vorzulegen. Der fehlt die Gefühlsduselei nämlich, das Bild ist von dir und die waren an einem ganz anderen Ort. Die begucken das nach anderen Kriterien. Erst recht die Menschen, die was von Bild verstehen. Und von denen – Klassiker seitens der Agenturen – bekommst du dann zurück, dass die « technische Qualität nicht unseren Anforderungen bla bla bla » und so. Mitnichten. Die haben keine Lust, dir grossartig auseinanderzusetzen, dass das wegen a, b, c, d und e auch noch den Minimalansprüchen an « Bild » hinsichtlich Komposition und Stimmung und so und überhaupt … Capiche ? Gut.

Dann raus mit dir und üben 😉 Suche die spaces, probier auch mal einen niedrigen Standpunkt oder von weiter oben nach unten, um die Dinger zu finden. Verwegener Gedanke : Guck mal bei der VHS nach Zeichenkursen. Wenn die da auch die Grundlagen behandeln, wird das mit den spaces auf der Liste stehen. Sowas kann deutlich Einfluss auch auf deine fotografische Arbeit haben. Ist so 😉 Einfach anfangen, spring über den Schatten. Positive space gerade eben gesehen ? Geil 🙂 Kombiniere es mit framing. Wahrnehmung ist eine Sache der Erfahrung. Es braucht Übung, wie immer. Je mehr Sachen du kennst und bewusst sehen kannst, desto besser werden deine Bilder werden.