« Führungslinien » in der Fotografie sind die Elemente innerhalb des Bildrahmens, die der Fotograf bewusst ausgerichtet / angeordnet hat, indem er ihre Zusammensetzung entweder durch Verschieben des eigenen Körpers oder der Kamera anpasst. Es sollen Linien entstehen, die zum Motiv « führen », den Fokus des Betrachters erhöhen, ihn (meistens gewünscht) im Bild halten und ein angenehmeres Seherlebnis bescheren. Zudem kann abhängig von der Art der Linie und ihrer Verwendung die Stimmung beeinflusst werden.
Tacking Left And Right Into The Wind
Tatsächlich ist es in aller Regel fast unmöglich, etwas ohne Linien zu fotografieren. Linien sind ein Gestaltungselement und tragen so zur Komposition eines Bildes bei. Sie lenken den Blick des Betrachters innerhalb und entlang eines Fotos auf das Hauptobjekt und können den Blick im Bild halten. Es ist sinnvoll, auf die Linien in einer Szene ein Auge zu haben. Ordentlich wird das Bild, wenn schon vor dem Druck auf den Auslöser ganz gezielt nach Linien gesucht wird, um diese nach ihren spezifischen Arten und damit Wirkungen einzusetzen. Selbst die Art und Weise, wie wir ein Motiv in der Porträtfotografie darstellen, erzeugt Linien. Erschreckend häufig unbeachtet gelassen, aber Tatsache.
« Führungslinien »

Führungslinien sind die Linien in einem Foto, die das Auge des Betrachters in das Bild hinein- und im Bild herumführen. Je nach gewünschter Aussage (und Verwendung des Bildes beispielsweise in Druckwerken) sollen die Dinger dazu dienen, den Blick im Bild zu halten oder gezielt hinauszuleiten. Sehr oft wird das Motiv an einer Stelle entlang dieser Linien plaziert. Es kann sein, dass es auf halbem Weg liegt und die Linie dann weiterläuft. Es kann auch sein, dass lediglich zum Motiv geleitet wird und die Linie dort endet. Ebenfalls ist möglich, dass mehrere Führungslinien den Blick des Betrachters zum Motiv führen. Im Grunde sind Führungslinien wie ein großer großer Pfeil, der sagt « Guck mal, hier ». Quasi wie Offenblende (hast du noch, oder ? Negative space – Auge mag Unschärfe nicht so. Youpi ! 🙃), aber wesentlich eleganter. Vor allem, wenn Linien zusätzlich zur Offenblende eingesetzt werden. Der Fotograf hat dann bewiesen, dass er die Kontrolle hat. Das andere ist die aus dem Off heranzischende Plattschaufel. DA ! MOTIV ! WACK !
Ernsthaft – Guck bei Bildern der « grossen » Fotografen nach, also den « echten » abseits der Überzahl der Technologieanbeter. Auch Fotografen arbeiten gelegentlich mit recht offenen Blenden, aber im Wischiwaschi des Unscharfen, da werden sie auftauchen, die den Blick führenden Elemente. Gesehen, integriert und damit bewusst ausgelegte Fährten. Fotografiert statt nur geknipst. Und es sind beide Augen in der Schärfe, das kamerafernere zumindest noch annehmbar.
Das Allerlei der Linien
Linien bilden Formen und Umrisse. Sie können als durchgehende oder unterbrochene Linien auftauchen, etwas einrahmen, dick oder dünn sein, etwas miteinander verbinden oder trennen. Sie tauchen wirklich überall auf, menschengemacht eher « scharf » gerade oder geschwungen, in der Natur eigentlich immer mehr oder weniger geschwungen. Linien schaffen Raum und Tiefe.
Aus dem Ärmel ein paar Klassiker :
- Straßen, Wege, Bürgersteige und Promenaden
- Schienen – eine rechts eine links Blick ins Irgendwo … ganz elendes Klischee. Das wurde zu oft gemacht, manchmal auch erfolgreich mit Darwin-Award. Also, selbst wenn du wirklich hart in Versuchung kommst, streng dein Oberstübchen an und such was Originelleres. Kletter zumindest hoch genug.
- Schritte – Fußspuren, Spuren von Viechern
- Gebäude, Hochhäuser und Häuserschluchten
- Flure und Gänge, Treppen
- Reihen von Bäumen oder Laternenpfählen oder Fahrrädern
- Mauern, Hecken und Zäune
- Brücken und Unterführungen
- Küstenlinien und Uferlinien allgemein
- Flüsse und Bäche
- der Horizont
- Extremitäten – Arme, Hälse, Oberkörper, Beine. Äste aus Köppen. Scherz.
- Äste gehen in der Tat ganz prima 😉
- dazu perspektivische Linien, Linien durch Kamerahaltung (Stichworte unter anderen stürzende Linie und dutch angle – letzteres ist, wenn eine « Horizontlinie » absichtlich schief ist. « Richtig » schief, nicht nur schief, weil ich die Kamera nicht perfekt ausrichten kann.)
- Schatten können auch Linien machen
- Lichtstrahlen ebenfalls
- und wenn du einen Blick Richtung Himmel wagst : Kondensstreifen
Das ist nicht abschliessend, wenn dir noch was einfällt, schick. Lege das in Gedanken mit dazu.
Okeeeh. Die Dinger lassen sich grob einteilen.
Vertikale, Horizontale kommen wahrscheinlich jedem umgehend in den Sinn. Es gibt noch mehr und alle haben unterschiedliche Auswirkungen auf das Bild :
- dominante Horzontale und Vertikale
- diagonale Linien
- implizierte Linie
- konvergierende Linien
- geschwungene Linien / Arabesque
Die Vertikale
Vertikale Linien stehen für Wachstum, Stärke und Vertrauen in Fotos. Genau wie bei unserer Körpersprache wirken wir, wenn wir gerade stehen, kontrollierter, selbstbewusster und stärker. Wenn dein Motiv an einer vertikalen Linie « lehnt » (tatsächlich oder visuell), sieht es « gestützt » aus.
Die Breite vertikaler Linien wirkt unterbewusst. Dicke vertikale Linien fühlen sich stark und imposant an und verleihen der Komposition Stabilität. Dünne vertikale Linien wirken zerbrechlicher, leichter und eleganter. Spiel damit. Gängige Praxis, solcherlei Manipulation.
In der sogenannten westlichen Welt scannen wir Fotos von links nach rechts und nicht von oben nach unten oder umgekehrt und unsere Augen folgen Linien in Fotos. Vertikale Linien können damit dazu eingesetzt werden, um das Auge des Betrachters « nach oben » zu lenken. Häuserschluchten, die ewigen Klassiker. Du guckst nach oben. Wetten ?
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Die dominante Vertikale
Dominante Vertikale – eine herausstechende Linie. Einzelner Baum mittendrin, drüber nur noch der Himmel.

Es ist der Baum da. Der macht die Dominante. Allein durch seine Anwesenheit.
Als « Sonderfall » der dominanten Vertikalen kann die Mittellinie bei Portraits angesehen werden. Bei diesem Vehikel bringst du das kameranahe Auge auf oder möglichst nah an die Mittellinie des Bildes. Es folgt dir der Blick, gleich, aus welcher Richtung das Bild beguckt wird. Psychokram. Funktioniert. Grandios der Besuch im Rijksmuseum mit dem Kumpel, der vorher « Kekse » gegessen hat und die selbstredend in der Portraitabteilung angefangen haben, zu wirken (Magen und in die Blutbahn dauert halt immer so, nech … ) … Verfolgungswahn muss echt mistig sein 🤪. Es funktioniert nur – nur – mit dem Auge, welches dem Betrachter am nächsten ist. Mit dem anderen nicht. Probiere es aus.
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Die Horizontale

Horizontale vermitteln Stabilität. Im Gegensatz zu vertikalen Linien bleibt horizontal horizontal, ob dick oder dünn. Selbst wenn eine dünne horizontale Linie zerbrechlicher aussieht und sich zarter anfühlt als eine dicke – das bleibt ruhig und stabil.
In der westlichen Welt folgen die Augen einer horizontalen Linie von links nach rechts. Das Unterbrechen dieser Linie durch das Plazieren des Motivs in ihrem Weg führt den Betrachter zum Motiv.
Wenn das Motiv vertikal ist, wandert das Auge des Betrachters dann die Länge des Motivs nach oben. Dies macht das Seherlebnis interessanter, da es den Betrachter auf eine Reise durch das Foto mitnimmt. Ach ja, wenn keine besondere Absicht dahintersteht, dann achte darauf, dass der Horizont gerade ist. Die Szenerie fühlt sich an wie ein Kartenhaus im Wind, wenn der schief ist. Und soll er schief sein, dann bitte so, dass die Absicht zweifelsohne deutlich wird.
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Die dominante Horizontale

© Philip JONES GRIFFITHS / Magnum Photos
Siehst du sie ? Kneif die Augen zusammen, dass der Bildinhalt sich auf helle und dunkle Flächen reduziert, dann taucht sie deutlicher auf.
Diagonale
Horizontale und vertikale Linien fühlen sich stark, irgendwie beruhigend an ; im Gegensatz dazu erzeugt eine diagonale Linie Spannung und Energie.
Wir erwarten, dass etwas auf einer diagonalen Linie abrutscht und man sich selbst auch nicht einfach so gegen eine diagonale Linie lehnen kann, ohne abzurutschen. Dieses Spannungsgefühl erregt unsere Aufmerksamkeit. Dieses Spannungsgefühl macht das Bild attraktiver. Aussage und Betrachtungserlebnis werden verstärkt.
Das Hinzufügen von Spannung macht ein Foto nicht negativ, es kann eine erwartungsvolle Spannung sein, dass etwas passieren wird – gut oder schlecht. Andere Elemente im Foto informieren den Betrachter über die Art der Spannung.
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Diagonale Linien schaffen auch Tiefe in einem Foto, insbesondere wenn sie zusammenlaufende Linien sind.
Auf- und absteigend (baroque – aufsteigend / sinister – absteigend, auch gebaut aus den Elementen in deinem Bild, vorne gross, nach hinten kleiner werden oder auch umgekehrt. Aufsteigend wird von links unten nach rechts oben « gelesen », absteigend von rechts unten nach links oben. Klingt bescheuert, ist aber so.)
Die implizierte – weiterlaufende – Linie
Eine implizierte Linie kann aus einer Reihe ähnlicher Objekte bestehen :
- eine Reihe von Bäumen, die Allee
- Laternenpfähle in regelmäßigen Abständen am Straßenrand
- Wolkenkratzer entlang einer Straße
- eine Gruppe von Leuten in einer Warteschlange
- die Wiederholung ähnlich geformter Objekte oder Farben
- Köpfe und Schultern, Blickrichtungen

Implizierte Linien bis einer weint. Und dann siehst du hoffentlich auch den Kreis, den das Körpergewusel als solches aussenrum bildet ? Youpi ! 🤩
Menschen und Blickrichtung
Mensch als solcher ist neugierig, daher folgen unsere Augen dem Blick einer Person. Ich will « wissen », was die sieht, was die beguckt. Sobald ein Betrachter das Motiv im Foto erfasst hat, folgt er dem Blick des Motivs.
Nur weil implizierte Linien keine tatsächlichen Linien sind, heißt das nicht, dass sie in der Fotokomposition weniger stark sind als « reine » Linien. Im Filmschnitt ist das von ganz erheblicher Bedeutung und da als screen direction und matching eye-line geläufig
Konvergierende Linien
Ich habe konvergierende Linien bereits erwähnt, als ich über diagonale Linien gesprochen habe. Das liegt daran, dass zwei oder mehr diagonale Linien in einem Bild, die sich vom Vordergrund in den Hintergrund eines Bildes näher zusammenrücken, zusammenlaufen.
Meistens sehen wir diagonale Linien, die vertikal in die Ferne zusammenlaufen.
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Beispiele:
- die Seiten einer langen geraden Straße
- parallele Baumreihen
- der Blick vom Boden zwischen zwei oder mehr nahe beieinanderliegenden hohen Häusern, Hochhäusern und Wolkenkratzern

Um die Verwendung von konvergierenden Linien zu maximieren, positionierst du das Motiv an dem Punkt, in dem die Linien zusammenlaufen. Besonders schick ist das mit Weitwinkelobjektiven machbar. Je weiter der Bildwinkel, desto konvergierende Linien im Bild möglich. Kleine Träne : Du musst auf die Linien tatsächlich selber achten und sie zähmen und hinrücken – die Optik kann das von alleine nicht und der Grat zwischen « passt » und « knapp vorbei ist auch daneben » ist schmal.
Schwungvoll – die Arabesque
Die Natur ist voll von geschwungenen Linien. Also – eigentlich gibt es in der Natur keine schnurgerade Linie. Im Gegensatz zu geraden vertikalen, horizontalen oder diagonalen Linien können gebogene Linien das Auge um das Bild und im Bild herumführen. Sie können sich wie ein mäandernder Bach durch das Bild schlängeln. Anders als bei den « schnellen » Geraden verlangsamt sich bei Arabesquen die Reise des Auges. Das Bild fühlt sich ruhiger an. Der Betrachter darf mehr Zeit mit ihm verbringen. Habe deine Absichten der visuellen Manipulation des Betrachters im Hinterkopf.
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Beliebt ist die S-Kurve. Die kann was. Achte einmal bei Bildern mit Models darauf, wie oft mit der Pose der Körper in ein « S » oder eine krickelig geschriebene « 2 » gebracht wird. Es schmeichelt der weiblichen Form, es macht weicher. Je nach Kamerahöhe und Blick auf das Motiv vielleicht auch kleiner, verletzlicher, beschützenswerter.. Da können wir noch so « modern » tun mit Gender und Tüdelüt, es ist ganz tief in uns drinnen und wer möchte nicht gern in den Arm genommen werden ? Oder aus tiefer Warte selbstbewusst, sicher und elegant. Ein « S » führt das Auge in einem sanften Tempo in und durch die Fotografie. Damit ein solches « S » allerdings « angenehm » daherkommt, braucht es Übung. So ganz am Rande : Das geht hervorragend auch mit Haaren. Und Haarsträhnen. Falls du mal nur Kopfportrait machst.
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« Hausaufgabe »
Linien sind eines von vielen Elementen der Komposition, welche die Informationen in deinem Bild « organisieren ». Wenn sie kennst und siehst, weisst du auch, wie die Dinger in Kombination mit anderen Elementen für eine Einheit in der fotografischen Komposition verwendet werden können, um Bilder mit einer definierten Atmosphäre und / oder Botschaft zu machen. Es geht nicht immer darum, Linien zu suchen, die den Betrachter zum Motiv führen. Manchmal geht es einfach darum, sich der Linien innerhalb einer Szene bewusst zu sein und deren Auswirkungen auf das Bild zu erkennen. Linien in der Komposition können den Betrachter genauso leicht ablenken, wenn ihre Wirkung nicht berücksichtigt und darauf geachtet wurde, wohin sie den Betrachter führen oder eben auch nicht führen. Wenn die Linien den Betrachter nicht auf seiner Reise durch das Bild begleiten wird er schlagartig das Interesse verlieren. Trainiere dein Auge, um Linien zu sehen, damit sie zu einem natürlichen Teil deiner Previsualisierung und dann deiner Bildkompositionen werden. Mach es ebenfalls zu einer Gewohnheit, eine Szene flott nach solchen Elementen abzuscannen. Sehen statt nur glotzen.

Die Fahrspur führt hin, der Schatten der Laterne rechts führt hin. Die Horizontale führt hin.
Versuche die Fehler zu vermeiden, die gerne genommen werden :
- Führungslinien führen ins Nichts oder sind zu schwach, um klar auf das Hauptobjekt hinzuweisen
- Führungslinien führen vom Hauptobjekt weg, aus dem Rahmen raus, ohne das Hauptobjekt betonen zu können. Meistens ist so ein Malheur bei implizierten Linien zu beobachten oder wenn das Objekt des Hauptinteresses ein zu geringes visuelles Gewicht in der Gesamtkomposition hat – oder kraft Kontrast ein « falsches » Gegengewicht liefert, welches die Linienführung dann quasi ins Gegenteil des Gewollten verkehrt und den Blick aus dem Bild schleudert
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Wenn du die Richtungen, die die Elemente in deinem Bild einschlagen, siehst, warte auf den « entscheidenden Moment ». Er wird kommen.

Beachte das verwischte Bein. Dessen Stellung ist kein Zufall, da wurde beobachtet und abgewartet. Und wahrscheinlich schon lange vorher das Potential des Zwischenraumes zwischen den Statuen gesehen.
Kombiniere Linien mit anderen visuellen Mustern, zum Beispiel Rahmen. Fluchtpunkte im Bild können als Kreuzungspunkte benutzt werden, um auf denen oder in deren umittelbarer Nähe das Hauptobjekt zu positionieren. Das Zusammenspiel von führenden Linien mit der « Drittelregel » kann Wumms haben. Motiv in die unmittelbare Nähe oder gar auf die Kreuzungspunkte, Linie da hinzeigen lassen, Balance nicht ausser Acht lassen. Ebenso das Spiel mit negative / positive space. So die Idee. Also, auf jeden Fall deutlich angenehmer zu begucken, als Motiv ohne Denken da anzusiedeln ohne Linien ohne negative space ohne Balance … quäle dich durch die Forengalerien – dürfte keine Minute dauern, bis das erste Paradebeispiel die Laune trübt. Habe die Linien, die den Blick des Betrachters im Bild halten, im Hinterkopf. Die kommen gerne erst « auf den zweiten Blick ». Und sie sind äusserst wirkungsvoll. Verkompliziere die Sache erst einmal nicht, halte dich mit überladenen Kompositionen zurück.